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Beschluß | |
des 2. Senates vom 12. Dezember 1973
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- 2 BvR 558/73 - | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Wolfgang C ... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Bräuning, Düsseldorf, Prinz-Georg-Straße 56 - gegen a) den Beschluß des Landgerichts Düsseldorf vom 7. Juni 1973 - I 105/72 S -, b) den Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Juli 1973 - 1 Ws 476, 509 und 510/73 -.
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1. Die Beschlüsse des Landgerichts Düsseldorf vom 7. Juni 1973 - I 105/72 S - und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Juli 1973 - 1 Ws 476, 509 und 510/73 - verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
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2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Gründe | |
A. - I. | |
1. Nach § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug von Untersuchungshaft, solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist, wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Hierüber hat gemäß § 121 Abs. 2 StPO das Oberlandesgericht zu entscheiden.
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2. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 28. März 1972 in Untersuchungshaft. Laut Haftbefehl besteht gegen ihn der dringende Verdacht, sich einer Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StBG) schuldig gemacht zu haben; der Haftgrund ist Fluchtgefahr. Die Staatsanwaltschaft hat am 17. Juli 1972 Anklage erhoben. Am 1. März 1973 ließ die Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf - nach weiteren Ermittlungen - die Anklage zu und eröffnete das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht.
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Die Zuweisung der Sache zu einer Tagung des Schwurgerichts und die Bestimmung des Hauptverhandlungstermins verzögerten sich. Mitte Mai 1973 beantragte der Beschwerdeführer, den Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag lehnte die Strafkammer des Landgerichts durch Beschluß vom 7. Juni 1973 ab. In den Gründen führte sie aus, der Vorsitzende ![]() ![]() | |
Die Beschwerde gegen diese Entscheidung blieb ohne Erfolg. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verwarf sie durch Beschluß vom 18. Juli 1973 als unbegründet und ordnete zugleich gemäß § 121 Abs. 2 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Zur Begründung machte es geltend, die Anzahl der zur Terminierung anstehenden Schwurgerichtssachen sei bei dem Landgericht Düsseldorf erfahrungsgemäß sehr groß. Daher müsse mit erheblichen Verzögerungen gerechnet werden. Die Hauptverhandlung stehe erst für die Jahreswende 1973/74 zu erwarten. Dem könne nicht dadurch begegnet werden, daß ein weiteres Schwurgericht gebildet werde. Denn nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 21, 191) sei das Präsidium des Landgerichts nicht ermächtigt, mehrere Schwurgerichte bei einem Landgericht zu errichten und die Sachen auf sie zu verteilen. Die Verzögerung ergebe sich demnach bei der Geschäftslage des Schwurgerichts aus dem Gesetz. Sie sei im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer.
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Bei dem Landgericht Düsseldorf waren für 1973 zwanzig Tagungen des Schwurgerichts vorgesehen. Die Präsidien des Oberlandes- und Landgerichts hatten die hierfür erforderlichen Berufsrichter in der Weise bestellt, daß die für eine Tagung eingeteilten Richter frühestens wieder in der drittnächsten Tagung eingesetzt werden sollten. Damit ergab sich die Möglichkeit, beispielsweise mit der zweiten und dritten Tagung vor Abschluß der ersten zu beginnen. Diese Möglichkeit wurde genutzt.
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Am 20. August 1973 setzte der Präsident des Landgerichts den Beginn der fünfzehnten Tagung des Schwurgerichts auf den 30. Oktober 1973 fest und wies das Verfahren gegen den Beschwerdeführer dieser Tagung zu. Daraufhin bestimmte der Schwurge ![]() ![]() | |
Am 22. November 1973 verurteilte das Schwurgericht den Beschwerdeführer zu vier Jahren sechs Monaten Freiheitsstrafe und ordnete gleichzeitig die Fortdauer der Untersuchungshaft an.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde gilt den bezeichneten Haftbeschlüssen des Land- und Oberlandesgerichts. Der Beschwerdeführer rügt Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Zur Begründung trägt er vor:
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Seit März 1973 verstoße die Aufrechterhaltung der Haft gegen sein Recht auf persönliche Freiheit, weil trotz Abschluß der Ermittlungen kein Hauptverhandlungstermin anberaumt worden sei. Die angegriffenen Entscheidungen stünden im Gegensatz zu zwei Beschlüssen des Oberlandesgerichts Köln, wonach ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer nicht vorliege, wenn wegen Überlastung des Gerichts vier Monate nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses noch kein Hauptverhandlungstermin bestimmt sei. Fehl gehe die Meinung, die Verzögerung ergebe sich aus dem Gesetz, weil bei einem Landgericht nicht mehrere Schwurgerichte gebildet werden dürften. Denn es sei möglich, so viele Tagungen ein- und desselben Schwurgerichts anzuberaumen, daß alle Verfahren innerhalb angemessener Fristen zur Verhandlung gelangten. Eine Überlastung brauche dadurch nicht einzutreten, da für die verschiedenen Tagungen jeweils andere Richter bestellt werden könnten. Selbst wenn die Auffassung des Oberlandesgerichts ansonsten zuträfe, verstieße sie doch gegen § 121 Abs. 1 StPO, der im Falle des Widerstreits der bloßen "Verwaltungsvorschrift" des § 87 GVG vorgehen müsse. Insoweit sei zu beanstanden, daß der Gesetzgeber diese Vorschrift nicht so geändert habe, wie es erforderlich wäre, um auch in Schwurgerichtssachen die Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO einzuhalten.
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1. Der Bundesminister der Justiz, der sich für die Bundesregierung geäußert hat, hält die Verfassungsbeschwerde für begründet und führt aus:
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Weshalb sich in der Strafsache des Beschwerdeführers die Bestimmung des Hauptverhandlungstermins verzögert habe, lasse sich weder den angegriffenen Entscheidungen noch der Verfassungsbeschwerde entnehmen. Es sei daher auch nicht ersichtlich, aus welchem Grunde der Präsident des Landgerichts keine außerordentliche Tagung des Schwurgerichts einberufen habe, damit das Verfahren innerhalb angemessener Frist erledigt werde. Gegen die Zulässigkeit einer solchen Tagung bestünden auch unter dem Gesichtspunkt der Garantie des gesetzlichen Richters keine Bedenken. Die besondere Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit fordere, von dieser Möglichkeit im Interesse einer zügigen Abwicklung von Haftsachen Gebrauch zu machen.
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Die Auffassung, daß eine durch die Geschäftslage des Schwurgerichts bedingte Verzögerung als "wichtiger Grund" im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO die Fortdauer der Haft rechtfertige, sei im vorliegenden Fall mit der Grundentscheidung der Verfassung für die persönliche Freiheit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Grundsätze ergebe, daß die Überlastung der Strafgerichte nicht einseitig zu Lasten des Beschwerdeführers gehen dürfe. Dieser Umstand sei von ihm nicht zu vertreten. Die angegriffenen Entscheidungen ließen keine Abwägung der hier im Streit befindlichen Prinzipien erkennen. Sie hätten lediglich die Belange der Strafverfolgung, nicht aber das hohe Rechtsgut der persönlichen Freiheit berücksichtigt.
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2. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat mitgeteilt, daß sich der Präsident des Landgerichts bei der Verteilung der Verfahren auf die einzelnen Schwurgerichtstagungen an die Reihenfolge halte, in der ihm verhandlungsbereite Sachen vorgelegt würden. Den Haftsachen gebe er dabei keine Priorität. Selbst wenn er sie vorzöge - was er im Hinblick auf den Grundsatz des ![]() ![]() | |
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie ist auch begründet.
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Die angegriffenen Beschlüsse verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die ihnen zugrundeliegende Auslegung des § 121 Abs. 1 StPO steht mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Schutz der persönlichen Freiheit des Einzelnen nicht in Einklang.
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1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person - jedoch nicht schrankenlos. Die Freiheit der Person nimmt aber als Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Daher darf die Einschließung des Beschuldigten in eine Haftanstalt nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen der Freiheitsanspruch des Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muß, gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung. Diese wäre vielfach nicht möglich, bliebe es den Strafverfolgungsbehörden ausnahmslos verwehrt, den mutmaßlichen Täter schon vor der Verurteilung festzunehmen und bis zum Abschluß des Strafverfahrens in Haft ![]() ![]() | |
Wird der Beschuldigte freigesprochen, so ist der durch die verfahrenssichernde Freiheitsentziehung entstandene Schaden - ungeachtet der finanziellen Ansprüche, die das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) vom 8. März 1971 (BGBl. I S. 157) gewährt - seiner Natur nach irreparabel. Wird er hingegen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, läßt sich der Strafausspruch entweder überhaupt nicht mehr oder nur noch teilweise vollziehen. Da die Untersuchungshaft nach § 60 StGB regelmäßig auf die erkannte Strafe anzurechnen ist, verbleibt bei überlanger Haftdauer, während der sich der Beschuldigte lediglich in Verwahrung befindet, nicht selten kein Strafrest und oftmals nur eine Reststrafzeit, die zu kurz ist, um einen sinnvollen und erfolgversprechenden Strafvollzug zu ermöglichen. Angesichts dieser Umstände verändert sich die verfassungsrechtliche Abwägung zwischen der Strafverfolgungspflicht des Staates und dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten, je länger die Untersuchungshaft währt.
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2. Dem trägt § 121 Abs. 1 StPO insoweit Rechnung, als er den Vollzug von Untersuchungshaft wegen derselben Tat grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt und Ausnahmen nur in beschränk ![]() ![]() | |
Die Auslegung dieser Bestimmung des einfachen Rechts obliegt allerdings den allgemein dafür zuständigen Gerichten; sie ist der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht in vollem Umfang zugänglich (vgl. BVerfGE 18, 85 [92]). Das gilt auch insoweit, als sich die Aufgabe stellt, den Sinngehalt des Rechtsbegriffs "wichtiger Grund" mit den anerkannten Methoden und Mitteln der Norminterpretation zu erschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber zu prüfen, ob die Auslegung dieses Begriffes durch die Gerichte nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit beruht (vgl. BVerfGE 19, 303 [310]; 21, 209 [216]; 22, 93 [98]) und der Vorschrift unter Vernachlässigung anderer Auslegungsmöglichkeiten einen verfassungswidrigen Sinn beilegt. Denn das Gebot verfassungskonformer Auslegung verlangt, von mehreren, nach Wortlaut und Gesetzeszweck möglichen Normdeutungen, von denen die eine zu einem verfassungswidrigen, die andere zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, diejenige vorzuziehen, die sich mit dem Grundgesetz vereinbaren läßt (BVerfGE 32, 373 [383 f.) mit weiteren Nachweisen).
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Wird ein "wichtiger Grund" im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO festgestellt, bleibt noch zu prüfen, ob die Fortdauer der Haft nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist.
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3. Nach diesen Grundsätzen kann die von Land- und Oberlandesgericht vertretene Auslegung des § 121 Abs. 1 StPO vor der Verfassung keinen Bestand haben.
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Beide Gerichte betrachten es als einen "wichtigen Grund", wenn die Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen dazu führt, daß zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens ![]() ![]() | |
a) Die Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen ist im Lichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zunächst dann kein "wichtiger Grund", wenn im Rahmen der vorhandenen Gerichtsausstattung mit personellen und sächlichen Mitteln die Möglichkeit besteht, durch organisatorische Maßnahmen die Erledigung aller Sachen binnen verfahrensangemessener Fristen sicherzustellen, insbesondere zu vermeiden, daß sich in Haftsachen nach Eröffnung des Hauptverfahrens der Beginn der Hauptverhandlung erheblich verzögert. Zu solchen organisatorischen Maßnahmen gehört, daß der Präsident des Landgerichts gemäß § 87 GVG von vornherein eine dem voraussichtlichen Geschäftsanfall entsprechende Zahl von Schwurgerichtstagungen vorsieht. Dazu zählt weiter, daß er, wenn die geplante Anzahl der Tagungen wider Erwarten nicht ausreicht, im Laufe des Geschäftsjahrs außerordentliche Tagungen anberaumt. Dagegen bestehen unter dem Gesichtspunkt der Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) keine Bedenken, da die hierfür notwendigen Richter - außer in dem in § 83 Abs. 3 GVG geregelten Verfahren - schon vor Beginn des Geschäftsjahrs bestellt werden können. Vor allem haben die Präsidien des Oberlandes- und Landgerichts gemäß § 83 Abs. 1 und 2 ![]() ![]() | |
Beruht in einer Schwurgerichtssache eine erhebliche Hinauszögerung des Beginns der Hauptverhandlung darauf, daß diese Möglichkeiten nicht ausgeschöpft worden sind, so ist der weitere Haftvollzug nach Ablauf der für die Vorbereitung der Verhandlung notwendigen Zeit schon aus diesem Grunde verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits ausgesprochen, daß der Vollzug von Untersuchungshaft, deren Dauer die Frist des § 121 Abs. 1 StPO erheblich überschreitet, gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verstößt, wenn die Überschreitung dadurch verursacht ist, daß die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (BVerfGE 20, 45 [50]; 21, 184 [187]; 21, 220 [222]; 21, 223 [226]). Das gleiche muß aber auch gelten, sofern der Grund einer derartigen Überschreitung darin liegt, daß sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens der Beginn der Hauptverhandlung in einer verhandlungsbereiten Sache infolge vermeidbarer gerichtsorganisatorischer Fehler oder Versäumnisse erheblich verzögert.
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b) Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen ist jedoch angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG selbst dann kein "wichtiger ![]() ![]() | |
Die Auslegung des dort gebrauchten Merkmals "wichtiger Grund" muß sich - entsprechend den oben entwickelten Grundsätzen - danach orientieren, zu welchem Ergebnis eine Abwägung führt, bei der angesichts des bereits sechs Monate währenden Haftvollzugs der Freiheitsanspruch des Beschuldigten den staatlichen Strafverfolgungsbelangen mit verstärktem Gewicht gegenübertritt. Diese Abwägung ergibt aber, daß eine Überlastung des Gerichts den Vorrang der Strafverfolgungspflicht des Staates gegenüber dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten nicht zu begründen vermag.
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Der inhaftierte Beschuldigte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Strafsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung gelangt, weil dem Gericht die personellen oder sächlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären. Dies ist zwar für sich genommen noch nicht entscheidend. Denn gleiches trifft auch auf andere Umstände zu, die - wie etwa die Verhinderung unentbehrlicher Verfahrens ![]() ![]() | |
II.
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Demgemäß ist die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen festzustellen. Ihre Aufhebung kommt indessen nicht in Betracht, da sie inzwischen überholt sind, nachdem der Beschwerdeführer - wenn auch noch nicht rechtskräftig - zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren sechs Monaten verurteilt worden ist und das Schwurgericht nach der Urteilsverkündigung durch einen neuerlichen Beschluß die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hat.
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Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). Die Erstattungspflicht trifft das Land Nordrhein-Westfalen, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.
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IV.
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Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen.
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I.
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Der zu entscheidende Fall macht es nicht notwendig, sich in abschließende Erörterungen über die Grenzen einzulassen, die § 121 Abs. 1 StPO der Strafjustiz bei der Aufrechterhaltung eines Haftbefehls zieht. Wie noch darzulegen sein wird, enthält deshalb der Beschluß vom 12. Dezember 1973 teilweise Ausführungen, die obiter dicta sind.
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II.
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Vorweg ist auch klarzustellen, daß § 121 Abs. 1 StPO in der Hand der Gerichte nicht zum Hebel für justizpolitische Forderungen gemacht werden darf. Auch das Bundesverfassungsgericht hat nicht Rechtspolitik zu betreiben. Deshalb kann es beispielsweise kein Argument für die Auslegung der Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO sein, sie müsse verhindern, daß der Vollzug der Untersuchungshaft praktisch den Vollzug der Strafhaft verdränge oder daß infolge der Dauer der auf die Strafe anzurechnenden Untersuchungshaft der noch verbleibende Rest von Strafhaft für ![]() ![]() | |
III.
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§ 121 Abs. 1 StPO muß im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen der Untersuchungshaft gesehen und ausgelegt werden. Eine Zusammenschau dieser Vorschriften, insbesondere der §§ 112, 112a, 113, 116, 116a, 117, 120, 121, 122, 122a, 123, 126 StPO ergibt:
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1. Eine erste allgemeine und elementare Einschränkung der Verhängung von Untersuchungshaft ist, daß der Beschuldigte einer Straftat "dringend verdächtig" sein muß. Entfällt der dringende Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen, so ist der Beschuldigte unverzüglich zu entlassen.
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2. Untersuchungshaft kann außerdem nur angeordnet werden, wenn einer der im Gesetz abschließend aufgezählten Haftgründe vorliegt, also wenn feststeht, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) oder wenn Fluchtgefahr gegeben ist (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) - sie wird gleichsam fingiert in den Fällen des § 112 Abs. 3 StPO - oder wenn Verdunkelungsgefahr besteht (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) oder wenn der Haftgrund der "besonderen Gefährlichkeit" nach Maßgabe des § 112a StPO vorliegt. Sobald keiner der Haftgründe mehr vorliegt, ist der Haftbefehl aufzuheben.
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3. Das Haftrecht wird schließlich allgemein durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht. Daraus hat der Gesetzgeber die Folgerungen gezogen: § 113 StPO schließt bei leichteren ![]() ![]() | |
4. Innerhalb dieses Kontextes verliert § 121 Abs. 1 StPO den Charakter eines "selbständigen" Haftbeendigungsgrundes. Erst im Zusammenhang mit § 122a gewinnt er für den Haftgrund des § 112a (besondere Gefährlichkeit des Beschuldigten für seine Umgebung) die Bedeutung, daß er in diesen Fällen die Haft zeitlich zwingend auf eine Höchstdauer von einem Jahr beschränkt. Im übrigen bezweckt er, durch Hervorhebung des mit jeder vermeidbaren Verzögerung des Verfahrens verbundenen Nachteils für den in seiner persönlichen Freiheit beschränkten Beschuldigten eine besonders sorgfältige Prüfung der Berechtigung der Haftfortdauer sicherzustellen; § 122 StPO überträgt deshalb diese Aufgabe einem besonders qualifizierten "Haftrichter", dem Oberlandesgericht. Dieser Zusammenhang ergibt eindeutig, daß das Oberlandesgericht auf Vorlage umfassend zu prüfen hat, ob die Fortdauer oder die Aufhebung der Haft anzuordnen ist, also den Haftbefehl nicht einfach, weil eine Verzögerung des Verfahrens eingetreten ist und die Haft länger als sechs Monate dauert, aufheben darf, ohne abgewogen zu haben, ob trotz der auf einem wichtigen Grund beruhenden Verzögerung des Verfahrens die Fortdauer der Untersuchungshaft gerechtfertigt werden kann. Mit anderen Worten: § 121 StPO ist nicht eine lex specialis, die für den Verfahrensabschnitt vor Erlaß des Urteils den Haftgrund der Fluchtgefahr oder der Verdunkelungsgefahr oder der besonderen Gefährlichkeit des Beschuldigten für seine Umgebung rechtlich unerheblich werden läßt, also Staatsanwaltschaft und Gericht wegen Verzögerung des Verfahrens gleichsam damit "bestraft", ![]() ![]() | |
5. Die Auslegung des § 121 Abs. 1 StPO selbst ergibt schließlich:
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Die Aufrechterhaltung der Haft ist hier davon abhängig gemacht, daß "die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen". Aus dieser Formulierung ergibt sich ganz eindeutig, daß nicht von der Auffassung, daß die Fortdauer der Haft gerechtfertigt ist, auf die Qualifizierung eines Umstandes als "wichtiger Grund" geschlossen werden kann. Vielmehr ist zunächst zu ermitteln, was ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ist, und dann weiter zu prüfen, ob dieser wichtige Grund die Haftfortdauer rechtfertigt. Anders ausgedrückt: Der wichtige Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO kann im Einzelfall die Fortdauer der Haft rechtfertigen, muß es aber nicht. Denn was von den ausdrücklich genannten wichtigen Gründen - "besondere Schwierigkeit der Ermittlungen" oder "besonderer Umfang der Ermittlungen" - gilt, muß auch von den unbenannten anderen wichtigen Gründen gelten. Der "andere wichtige Grund" muß seiner Art und seinem Gewicht nach ähnlich den beiden benannten wichtigen Gründen sein. Berücksichtigt man, daß Vorschriften des Strafprozeßrechts innerhalb des Systems unseres Rechts generell sich nur an Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte wenden können und nur sie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, so liegt nahe, alle Umstände, die von den genannten Rechtspflegeorganen "beherrscht" werden können, also von ihnen, soweit sie dem Beschuldigten nachteilig werden, vermieden oder behoben werden können, als nicht wichtigen Grund anzusehen, dagegen jeden eine Verzögerung verursachenden Umstand, der jenseits ihrer Macht liegt, als "wichtigen Grund", der den benannten beiden wichtigen Gründen gleichartig ist, zu qualifizieren. Der so umschriebene "wichtige Grund" muß nun - in einem zweiten ![]() ![]() | |
IV.
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In dieser Auslegung ist sowohl das geltende Haftrecht im allgemeinen als auch § 121 Abs. 1 StPO im besonderen mit der Verfassung, insbesondere den Grundrechten der Art. 1, 2, 3 GG vereinbar.
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V.
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In Anwendung auf den konkreten Fall bedeutet das für die verfassungsrechtliche Prüfung:
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1. Der Beschluß des Landgerichts vom 7. Juli 1973, der die Haftfortdauer anordnet, begnügt sich in seiner Begründung, soweit sie verfassungsrechtlich erheblich ist, mit der summarischen Feststellung, der "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" sei "gewahrt". Der Beschluß des Oberlandesgerichts vom 18. Juli 1973 enthält zu dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der "Verhältnismäßigkeit" und zu der bei der Anwendung des § 121 Abs. 1 StPO erforderlichen Abwägung zwischen dem Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung - der Haftbefehl ist auf den Haftgrund ![]() ![]() | |
2. Dagegen kann von Verfassungs wegen nicht gefordert werden, daß Parlament, Haushaltsausschuß und Justizministerium alles zur Beseitigung einer Überlastung der Gerichte in Strafsachen Erforderliche getan haben müssen, damit im Falle einer auf eine Unterlassung jener Stellen zurückzuführenden Verzögerung eines Schwurgerichtsverfahrens die Haft nach § 121 Abs. 1 StPO aufrechterhalten werden kann.
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